Otto Neubauer

Wir sind alle über Grenzen gegangen, auch die unserer Vorstellungen.

Otto, dein bewegtes Leben liest sich sehr spannend. Alles was du jemals getan hast und tust, ist getragen von deinem Glauben. Wann ist dir Gott zum ersten Mal bewusst geworden?
Es ist ein wenig rätselhaft, doch ich weiß, dass ich schon als kleines Kind ge­­betet habe, immer wusste, dass ich nicht alleine bin. Diese Erfahrung, dass Jesus mein Freund ist, war sehr früh da. Das kam ganz natürlich. Ich war sogar überrascht, wenn ich mit meinen Spielkameraden über den Glauben gesprochen habe, dass die nicht in die Kirche gehen. Ich sah das als echtes Privileg, dass ich glauben darf. Und als ich dann acht Jahre im Internat war und Heimweh hatte, da war diese Zweisamkeit, sozusagen mit Jesus, mein Zufluchtsort. Meine Rettung. Ich glaube, diese Erfahrung des ‚Zuhause-Seins‘ bei ihm hat sich dann so durchgezogen. Dass Andere diese Art von Freundschaft und bedingungs­loser Liebe nicht kennen oder nicht erfahren haben, hat mich geschmerzt, aber dieser Schmerz war auch etwas Kreatives. Das hat in mir etwas freigesetzt. Eine Art von Drängen, etwas zu tun, etwa, wenn ich mit Freunden unterwegs war. Menschen ein Zuhause finden lassen, etwas unternehmen gegen diese innere Heimatlosigkeit, wenn sich jemand nicht so angenommen weiß.

Hast du den Glauben schon von zu Hause mitbekommen?
Meine Mutter war sehr gläubig. Von ihr habe ich die Gastfreundschaft mit­bekommen, aber auch diese innere Dankbarkeit und die Gewissheit, dass Jesus ohnehin immer da ist und sich um alle sorgt. Früh habe ich mit Jugendmis­sionen begonnen und damals die Gemeinschaft Emmanuel kennen gelernt. Ich war fasziniert von den jungen Leuten und ihren coolen Projekten, die darin Spiritualität und Sorge für die Menschen, die es schwer haben, vereint haben. Das war die Mischung, die mich angezogen hat.
Da sehen wir auch den roten Faden bei dir, dieses innere Wollen und Bestreben, Einheit zwischen die Menschen zu bringen oder sie zumindest darauf hinzuweisen. Besonders in Richtung der jungen Menschen.
Ich sehe das sogar als eine Art Notwendigkeit, wie eine innere Pflicht. Mir ist etwas geschenkt worden, das ich weitergeben möchte. Etwas, das nicht nur
mir alleine gehört, eine bedingungslose Liebe, die sich nicht nur auf ein paar Menschen beschränkt. Mich hat stets beeindruckt, dass Jesus nicht zu den Gerechten gekommen ist, sondern zu den Sündern, er ist zu den Kranken gekommen und nicht zu den Gesunden. Und vor allem auch: Alle Zöllner und Sünder kamen zu Jesus. Das Volk kam zu ihm, die, die es schwer gehabt haben und sich ihrer Sünden bewusst waren. Das hat mich als Jugendlicher geprägt. Dass ich dann Lehrer geworden bin und bei den jungen Leuten war, das war schon vorbereitet.

Gab es auf deinem Weg auch Hürden oder Berge, die du erklimmen musstest? Prüfungen?
Ich habe den Eindruck, ständig neue Hürden zu entdecken. Doch bei diesem Hindernislauf steht man sich selbst am meisten im Weg, macht einem die eigene Wehleidigkeit zu schaffen. Laut Franziskus muss man den Dialog bis zur Erschöpfung leben. Brücken bauen, Dialog leben, das fordert von uns alles, unser ganzes Herzblut. Und auf einer Brücke ist die Spannung in der Mitte am stärksten. Eine Brücke muss ja was tragen. Das kann hart sein.
Mich tröstet stets der Satz aus der Schrift, wo Jesus vorgeworfen wird, dass sein Freund, der Fresser und Säufer, ein Sünder ist. Ich will mich nicht mit ihm vergleichen, aber der Einsatz für andere, der Dialog mit Menschen anderer Weltanschauungen bringt auch viel Kritik und Auseinandersetzung.

Jetzt möchte ich einmal auf Doraja zu sprechen kommen. Das erste Mal seid ihr euch begegnet bei einem Vortrag der Emmanuel Gemeinschaft in Altötting. Wie ist es dir bei dem ersten Treffen gegangen?
Das war ein Wow-Erlebnis! Das hat unmittelbar etwas in meinem Herzen an­­gesprochen. Eine unglaubliche Freude, dass jemand mit so einem Feuer, so einem sprühenden Elan und Mut von seinem Glauben spricht. Und ihn mit der konkreten Tat verbindet. Also das war einfach faszinierend. Und weil wir von diesem Zuhause-Sein und Angenommen-Werden gesprochen haben: Da war sofort ein Vertrauen, eine Verbindung da.

Seither verbindet euch ja diese „Mission Possible“, habt ihr die gemeinsam gegründet oder war sie da nur beteiligt?
Wir haben einen Zweig bei uns, den wir „Mission Possible“ nennen, wo wir für Schulungen da sind, für Leute in der Kirche, damit sie Unmögliches eben möglich machen. Und wir haben das um einen Dialog mit Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen erweitert. Wir haben Doraja auf vielfältige Weise eingebunden, mitzuhelfen. Sie hat für mich unglaublich viel Mut. Und so oft ich gemerkt habe, ich bin kleingläubig oder mutlos, hat mich dieser Mut mitgerissen. Gestärkt. Aufgebaut. Und da ist auch diese Liebe zum Leben. Anfangs hatte ich so ein Bild vor mir – das mag jetzt vielleicht oberflächlich klingen – von einer Persönlichkeit zwischen Mutter Theresa und Lady Diana. So unmittelbar konkret und auch eine Dame von Welt, die sich in den Kreisen der Politik engagiert. Diese Verbindung fand ich unglaublich grandios.

Doraja hat gesagt: Reden ist schon gut, aber ihr müsst tun.

Du bist ja dann einige Male mit jungen Menschen aus deinem Lehrgang namens „Politisch.Neu.Denken“ im Figlhaus und Doraja Eberle nach Bosnien und Herzegowina gefahren. Ihr habt zusammen mehrere Häuser gebaut. Was hast du von diesen Erfahrungen mitnehmen können?
Was wir insgesamt gelernt haben, ist, dass es darum geht, Hand anzulegen. Konkret zu werden. Doraja hat uns in diesem politischen Seminar geholfen, einen neuen Weg zu gehen. Wir wollten eine neue Kultur, ein neues Mitgefühl entwickeln, ein neues Gemeinwohl. Sie hat gesagt: Reden ist schon gut, aber ihr müsst tun. Und das Tun verbindet. Schafft Gemeinschaft. Als wir dort an­­gekommen sind, waren wir sofort Teil einer Familie. Ich glaube, das hat uns alle entfesselt. Plötzlich haben wir dazugehört. Gemeinsam zu arbeiten, zu schaffen, die Würde, die Ehre zu haben, auch etwas geben zu dürfen, gemeinsam geben zu dürfen. Ich werde nie den Moment vergessen, als wir die Blumen und die Schlüssel überreicht haben. Wir haben es tatsächlich geschafft, ein Haus hinzustellen. Und dann steht da eine Familie in Tränen und Dankbarkeit. Dass wir diese Möglichkeit bekommen haben, Gutes tun zu dürfen und gleichzeitig Teil einer so unterschiedlichen Welt sein zu dürfen. So multikulturell, so arm, so reich, die verschiedenen Ethnien und dennoch wie Brüder und Schwestern, wie Freunde.

Welches Feedback hast du von der jungen Generation bekommen? Von denen, die mitgefahren sind?
Sie waren teils tief bewegt. Ein sehr kritischer Politikwissenschafter hat gesagt, das sei das Stärkste, das er je erlebt habe. Und wenn er jemals etwas unterstützen würde, dann sei es das. Ich glaube, wir sind alle über Grenzen gegangen, auch die unserer Vorstellungen. Es hat Herz und Seele angesprochen. Viele haben gesagt, diese Großherzigkeit sei ihnen selbst zu Herzen gegangen. Und natürlich auch die Betroffenheit, sich einer dramatischen Situation stellen zu müssen, die Orte eines Genozids zu besuchen. Das hat sprachlos gemacht.

Du hast menschliche und politische Vielfalt mitgebracht auf diesen Reisen und hast auch unser Team angeregt und reicher gemacht. Wie hat deine Gruppe das BhB Team empfunden? Wie ist es euch gegangen, als ihr die Geschichte Srebrenicas kennen­gelernt habt?
Wir sind hingeführt worden, um hinzuschauen. Ein wichtiger Schritt. Und um sich den Wunden der Ohnmacht auszusetzen. Es also auszuhalten. Nicht mehr sprechen können, weil die Erschütterung die Worte nimmt. Schweigen, weil man einfach nicht mehr weiß, was man sagen soll.
Es war für uns ein Lernen, sich auch dem Realismus und dem Versagen zu stellen. Der Wahrheit des Lebens. Dass manche Dinge nicht gelingen, dass es himmelschreiende Ungerechtigkeit gibt. Und gleichzeitig zu erleben, wie in vielen kleinen Schritten Gutes getan wird, Freude entsteht. Umarmungen, Zärtlichkeit, Hoffnung, freudige Dankbarkeit. Wenn Doraja oder jemand von BhB aufgetaucht ist, war immer ein Strahlen in den Augen der Menschen, und man hat sofort den Eindruck gehabt, sie wollen erzählen, können jetzt erzählen. Das ist diese Erfahrung, zu Hause zu sein.
Meine Grunderfahrung des Glaubens – Zuhause, Hoffnung, Zuflucht – konnten wir unmittelbar spüren. Direkt nach den Reisen haben die Jugendlichen ständig davon erzählt. Es musste irgendwie raus. Und es gab den Auftrag: Wir müssen aus den Fehlern lernen. Den haben wir wahrgenommen, haben Politiker und zwei Mal den damaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, getroffen. Aber nie hat die Hoffnungslosigkeit überhandgenommen oder gar gesiegt. Und ich musste dann immer an die Revolution der Barmherzigkeit und der Zärtlichkeit von Papst Franziskus denken. Und ich erlebe Jugendliche, junge Studierende aus unterschiedlichen Welten, von ganz rechts bis ganz links, die Freunde werden, angesichts des Dienstes an Anderen.

Was man geschenkt bekommt, ist immer größer als das, was man investieren kann.

Dieses eine Ziel hat uns vereint, dadurch waren wir alle gleich. Das war stets unsere Stärke. Warst du mit mehreren Projekten konfrontiert, hast du ein Lieblingsprojekt von Bauern helfen Bauern?
Ja, von der Musikschule war ich völlig begeistert! Ich dachte: Hier erlebe ich Pfingsten! All die unterschiedlichen Sprachen, Ethnien, und sie singen und musizieren vereint. Mit solcher Inbrunst und Freude trotz der tiefen Wunden in dieser Gesellschaft. Die sind nicht weg, aber verwandelt. Und als ich Doraja mittendrin gesehen habe, dachte ich: Es trägt Früchte. Aber auf sehr geheimnisvolle Art und Weise. Es ist nicht das normale input-output System. Letztlich ist das, was man geschenkt bekommt, immer größer als das, was man inves­tieren kann.
Was ich ebenfalls so faszinierend fand, war die Freude der Menschen über das Wiedersehen. Etwa die Frau, die quasi ihre ganze Familie durch den Genozid verloren hat. Und dann diesen wunderbaren Satz gesagt hat: „Hätte ich nicht vergeben können, hätte ich nicht weiterleben können.“

Uns gibt es jetzt 30 Jahre. Du warst ein Teil dieser Geschichte, du und dein Team. Ihr seid ein Stück weit für diesen Erfolg mitverantwortlich. Was hat all das dir persönlich hinterlassen, was wird wichtig sein, diese Welt ein Stückchen besser zu machen?
Es gibt ein Bild, in dem die Armen an unserem Tisch Platz nehmen dürfen. Dann entsteht das Reich Gottes. Und das ist für mich vielleicht der Kern von Bauern helfen Bauern und von Doraja. Wir durften am Tisch Platz nehmen, weil wir uns selbst als arm empfunden haben. Und wir haben gesehen, wie die, die in Not sind, dann an eurem Tisch Platz nehmen durften. Man teilt alles, was man hat. Ich habe auch gesehen, wie Doraja immer einen Platz an allen Tischen dort bekommen hat. Das wenige, das sie hatten, haben sie immer großzügig und großherzig gegeben. Und eine Tischgemeinschaft von Freunden, von Familien­angehörigen, wo man zu Geschwistern wird, das ist für mich das schönste. Ein prophetisches Bild. Der Auftrag, Leute an unserem Tisch Platz nehmen zu lassen. Dazu hat Doraja unglaublich viel beigetragen.

Otto Neubauer
Nach sieben Jahren als Gymnasiallehrer in Graz wandte sich der Theologe dem Thema Mission zu, für die Gemeinschaft Emmanuel in Altötting und Wien, entwickelte Anfang der 1990er Jahre Gemeindemissionen neuen Stils, koordinierte internationale Kongresse, verfasste das Handbuch „Mission Possible“ und ist seither europaweit tätig. Sein Wirkungskreis ist vielfältig, von der „Akademie für Dialog und Evangelisation“ in Wien und dem Reformprozess der Erzdiözese Wien bis zur Europahochschule CIFE in Nizza/Berlin mit neuen Schulungs- und Dialogprojekten zu Wertefragen, Politik und Medien und einem Gastreferat 2011 in Castel Gandolfo vor Papst Benedikt XVI.