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Mein erster Besuch in Srebrenica – Begegnung mit Orten, Menschen und deren Geschichten

Als ich vielleicht so ungefähr 5 Jahre alt war, sagte ich zu meiner Mutter, als gerade in der Tagesschau, Kriegsbilder über den Bildschirm in unser Wohnzimmer flackerten: „Wir haben es gut. Hier bei uns gibt es nie Krieg.“ Sie wurde plötzlich ganz ernst, überlegte kurz. Wie soll man mit seinem fünfjährigen Kind über Krieg sprechen? Ich weiß nicht genau was an diesem Abend in der Tagesschau berichtet wurde, und ob ich vier, fünf oder sechs Jahre alt war, aber wenn ich so zurück rechne ging es mit großer Wahrscheinlichkeit um die Kriege in Jugoslawien. Vielleicht sogar um Srebrenica, wer weiß. Und ich erinnere mich mir das erste Mal Gedanken über dieses abstrakte Wort „Krieg“ gemacht zu haben. Krieg ein Wort, das man nur aus den Nachrichten kennt. Jungs wollten manchmal Krieg spielen. Aber was bedeutet das eigentlich? Ich glaube als jemand der nie einen Krieg erlebt hat, nur Erzählungen, Berichte, Historische Fakten kennt, kann man nie wirklich wissen was Krieg bedeutet. Man kann es nur erahnen. Erst 22 Jahre später
sollte ich mehr über diese schlimmen Kriege in Jugoslawien und Srebrenicas Geschichte erfahren.

Ich bin 27 Jahre alt, während meiner Schulzeit war ich immer sehr geschichtsinteressiert, belegte in den letzten beiden Schuljahren sogar Geschichte als Leistungskurs, aber weiter als bis
1989/90 ging es im Unterricht nie. Mauerfall, Wiedervereinigung.
Als ich Hasan Nuhanovic kurz nach einer Aufführung des Theaterstücks „Srebrenica“, welches auf seiner Geschichte, seinem Buch „The last Refuge“ basiert, in Salzburg kennenlernen durfte, sagte er zu mir: „Well, those bricks fell on our heads.“ Aber in der Schule hörten wir davon nichts. Sechs Wochen lang waren wir während der Proben für das Theaterstück „Srebrenica“ tagtäglich in Hasans Geschichte eingetaucht.
In die Zeit vor Ausbruch des Krieges, in der er seine Eltern, vor allem seinen Vater dazu bewegen wollte doch das Land zu verlassen. Und obwohl man eh weiß wie es ausgeht, hofft man jedesmal, dass er es vielleicht doch noch schafft ihn zu überzeugen… Jedesmal wieder bangt man mit der Familie: Wenn sie ihr zu Hause verlassen muss und von Ort zu Ort, Dorf zu Dorf, von einem Verwandten zum anderen zieht. Immer da hin, wo eben die Dörfer noch stehen. Wenn sie es schließlich bis nach Srebrenica schaffen, in diese völlig überfüllten Stadt. Die dann zur Schutzzone wird ohne den dorthin Geflüchteten tatsächlich Schutz bieten zu können.

Jedesmal wieder bekommt man Gänsehaut wenn man in die Augen der Schauspieler sieht, die die Geschichte von Hasan und seiner Familie erzählen. Wenn die Mutter ganz genau weiß, dass ein Überfall der Tschetniks bevorsteht und Bracos Ahnung spürbar wird, dass er diesen Krieg vielleicht nicht überleben wird.
In diesen sechs Probenwochen habe ich viel über diesen Krieg, diese Kriege und über Srebrenica erfahren. Habe viel gelesen, schreckliche Bilder gesehen und Erfahrungsberichte von Fremden und mir bekannten Menschen gehört. Am Ende der Proben merkte ich, ich will dort hin. Ich will das Land sehen, die Orte, die Menschen kennenlernen, die dort noch immer leben oder vielleicht wieder zurückgekehrt sind. Auch die Drina, die Berge und Srebrenica.

Doraja Eberle, die ich während der Proben kennenlernen durfte sagte: „Kein Problem, du kommst einfach mit uns mit!“ Und so konnte ich schon Ende Mai 2018 Landolf, Susi und Franz auf ihrer Reise begleiten. Die Fahrt war lang, aber auch schön und vor allem sehr interessant. Jeder der drei erzählte mir verschiedenste Geschichten von vergangenen Fahrten und in den letzten 23 Jahren gab es davon so einige.

Als wir über die Grenze nach Bosnien fuhren machten wir halt bei Christina, einer jungen Tankstellenbesitzerin, die Landolf und Franz schon sehr lange kennen und die ursprünglich mal Kellnerin in einer anderen Tankstelle war. Mittlerweile ist sie eine erfolgreiche und starke Geschäftsfrau mit einem großen Herzen. Es war schön zu sehen, wie sehr sie sich freute Landolf und Franz zu sehen. „Ihr wart schon lange nicht mehr da!“, wie ein kleiner Vorwurf, aber mit Augenzwinkern. Klar die Zeiten der großen Hilfsgütertransporte mit mehreren LKWs sind vorbei. Jetzt wird ab und zu auch der Flieger genommen und so kommt man nicht mehr jedesmal bei Christina vorbei. Aber wenn man das Auto nimmt, dann immer. Sowohl auf dem Hin- als auch
auf dem Rückweg.
Die Fahrt quer durchs Land dauerte eine Weile, ich sah die ersten Felder, Häuser, Orte, Moscheen. Sehr ländlich zunächst, doch dann fuhren wir auch durch Tuzla hindurch und an Zvornik vorbei. Dort ragten viele große Betonbauten, graue Klötze in unterschiedlichen Größen auf. Alt. Es war ein bisschen so, als wäre man in der Zeit zurückgereist. Oder als wäre hier einfach die Zeit stehen geblieben…

Krieg. Was mir durch Hasans Geschichte bewusst geworden ist, dass er dich plötzlich aus deinem gewohnten Leben reißt. Von einem Tag auf den anderen ändert sich alles. Gerade warst du noch Student, Teenager oder Direktor einer großen Firma. Lebst ein Leben, dass du dir so nach und nach selbst gestalten möchtest, aufbaust. Was will ich erreichen. Welchen Beruf möchte ich ergreifen. Und von einem Tag auf den anderen sind all diese Dinge nicht mehr wichtig. Es geht nur noch darum zu überleben. Natürlich bedeutet das in einer gewissen Form Stillstand.

Zvornik, Tuzla, Cepa, die Drina und Srebrenica. Alles Orte von denen ich schon gehört hatte, und zu denen es bereits Bilder, Geschichten und Assoziationen in meinem Kopf gab. Jetzt sah ich sie mit meinen eigenen Augen.
Als wir nach Srebrenica fuhren kamen wir zuerst an Potocari vorbei. Natürlich. Ich wusste im ersten Moment gar nicht wo ich hinsehen sollte. Zu diesem großen, eingezäunten Gelände mit der Fabrikhalle, in der sich so viel Schreckliches abgespielt hatte oder auf die andere Straßenseite wo sich der weitläufige Friedhof erstreckt auf dem noch immer jedes Jahr neu identifizierte Opfer des Genozids beerdigt werden. Doch ich konnte gar nicht schnell genug schauen, da waren wir auch schon wieder vorbei.
Leerstehende Häuser, Ruinen fast, wechseln sich auf dem Weg in den Ort mit bewohnten, neu hergerichteten Häusern ab. Oft ist auch nur die Frontfassade renoviert und an den Seiten sieht man noch die Einschusslöcher. Alle haben sie, und sei das Grundstück auch noch so klein, einen kleinen Garten zur Selbstversorgung. Ich muss an mein Elternhaus denken. Meine Mutter liebt ihren Garten und lässt ihm auch, wie soll ich sagen, ein gewisses Eigenleben. Vieles wächst einfach wie es will und aus Spaß an der Freude gibt es im Sommer ein paar Tomatenpflanzen, Zucchini und vielleicht noch einen Kürbis. Der Rhabarber wuchert seit eh und je und die Johannisbeeren sowieso. Sie zu pflücken ist mühsam. Als Kind habe ich das gehasst, diese kleinen Beeren, die sich so leicht zerdrücken lassen und die dann auch noch so sauer sind, dass nicht einmal das Naschen Spaß macht. Bei uns ist der eigene Garten meist nur Hobby, aber hier dient jeder Garten der eigenen Grundversorgung mit Nahrungsmitteln.

Auf dem Weg in die Stadt, die eher ein Städtchen ist kommen wir an einem großen, bunten Platz in der Ortsmitte vorbei, mit Spielplatz für die Kleinen und Sportplatz für die Großen. Es ist unerwartet viel los. Familien mit kleinen Kindern, Jugendliche, auch ein paar Alte. Dieser bunte, belebte Fleck strahlt etwas Positives aus. Und doch merke ich wie in dieser Stadt, in der viel gebaut, aufgebaut und hergerichtet wird, genau wie jeder Mensch auf dieser Welt jeder Ort hier, jedes Haus, jedes Eck, jeder Stein eine Geschichte hat. Und wie es unmöglich ist, sie alle zu kennen.

Aber ein paar Geschichten höre ich von Amra, als sie sich am nächsten Tag einen ganzen Vormittag für mich Zeit nimmt um mir das Memorial Center, die Fabrikhalle und den Friedhof zu zeigen und mir etwas über die Geschichte ihrer Stadt zu erzählen und auch über ihre eigene Geschichte. Sie ist eine besondere und starke Frau und ich bin sehr dankbar, dass ich sie treffen durfte. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht sich Tag für Tag wieder der schrecklichen Geschichte ihrer Heimat zu stellen um sie weiter zu erzählen.

Ein anderer sehr besonderer Mensch den ich kennenlernen durfte ist Namir. Er hat sich ganz den Menschen vor Ort verschrieben. Wenn man mit ihm durch die Gegend fährt, dann winken die Menschen einem von den Häusern und Gärten aus zu, sie kennen ihn, sie schätzen ihn, denn er ist für sie da. Ich habe sofort ein Bild im Kopf, er ist ein bisschen so etwas wie der Sheriff von Srebrenica. Ein guter, starker, gerechter und manchmal auch strenger aber sehr humorvoller Mann dem die Leute vertrauen.

Wir besuchen auch einige BhB-Projekte: die Gärtnerei, die Himbeerplantage und die drei Familien, die in dieser Woche ein Haus bekommen. Die Familien könnten kaum unterschiedlicher sein, doch eines haben sie alle gemeinsam, sie sind alle in etwa in meinem Alter und haben bereits eine Familie und Kinder oder das Baby ist bereits unterwegs. Auch die Eltern der Paare sind da und alle helfen mit. Es ist so schön zu sehen wie sie sich freuen, dass ihre Kinder jetzt ihr eigenes Leben in den eigenen vier Wänden starten können. „Warst du dein Leben lang hier?“ frage ich eine junge Frau, sie ist ein paar Jahre älter als ich und bekommt heute ihr neues Haus, den Schlüssel überreicht. „Ja immer hier.“ Sagt sie, „Immer hier in Bratunac.“
Das bedeutet, als ich mir als kleines fünfjähriges Mädchen zum ersten Mal Gedanken über Krieg machte und meine Mutter nicht wusste, wie sie mir diesen Begriff kindgerecht erklären sollte, wuchs diese junge Frau in einem Land auf in dem seit sie denken konnte Krieg herrschte. Für sie ist Krieg kein abstraktes Wort. Sie weiß ganz genau was es bedeutet. Ich bemerke wie ich mich dafür schäme, in Deutschland geboren zu sein und eine unbeschwerte Kindheit gehabt zu haben. Nur zufälligerweise bin ich doch hier geboren und nicht in einem anderen Land.

Was also mit diesem unerwarteten Geschenk, das einem zunächst vielleicht gar nicht als solches bewusst ist, anfangen? Ich habe in diesem Jahr Doraja kennen gelernt. Und BhB. Und Landy. Und Susi. Und Franz. Und Namir. Und Amra. Und Hasan. Seine Geschichte ist so kraftvoll und ich bin so froh dass ich sie hören durfte. Sie hat mir neue Sichtweisen eröffnet und mich geprägt. Ich weiß nicht was noch kommt. Ich weiß noch nicht wo und was genau anfangen mit diesen neuen Eindrücken. Aber irgendwie weiß ich, dass das nicht meine letzte Reise nach Bosnien war und ich glaube, dass man von BhB und deren Arbeit sehr viel lernen kann und irgendwie wird es weitergehen. Und an so vielen Ecken und Enden wird Hilfe benötigt. Da muss man doch
irgendwo anpacken.

Danke liebe Doraja. Danke euch allen. Ihr seid ein wunderbares Team und ganz besondere Menschen.
Magdalena Oettl